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Montag, 23. Juni 2014

Schicksale.

Es ist Montagnacht. Halb Zwölf. Und ich sollte endlich mal Schlafen gehen.
Seufzend klappe ich mein Buch zu und lege es auf den Nachttisch. Eigentlich viel zu Schade mitten im Kapitel aufzuhören. Aber ich muss morgen früh raus. Ich lösche das Licht und rolle mich auf die Seite.
...
Ach scheiß drauf. Wenigstens ein Kapitel noch. Ich mache das Licht wieder an und greife mit eiligen Bewegungen nach meinem Buch. Ich kann es kaum erwarten, wie es weiter geht. Wird er noch rechtzeitig ankommen? Ich gehe durch die Nacht, meine Beine tragen mich, bewegen sich unermüdlich, Kilometer um Kilometer. Mein Fenster ist offen. Von draußen höre ich Geschrei. Es nervt. Aber nicht zu sehr, als dass ich aufstehen würde, um das Fenster zu schließen. Die Sohlen meiner Schuhe berühren den Boden kaum, gleiten über Das Gebrüll ist lauter als sonst. Es klingt als würden sich zwei Männer streiten. Verdammte Hochhaussiedlung. Ich versuche mich zu konzentrieren. gleiten über den Asphalt. Da ist ein großer dunkler Parkplatz, auf dem nur ein einziges Auto Gott sind die laut. Ich überlege das Fenster doch zuzumachen. Muss ein echt heftiger Streit sein heute. Ich höre eine Frau schreien. auf dem nur ein einziges Auto steht. Ein Auto dessen Tür aufgestoßen wird, als ich Was war das? Ich lausche in die Dunkelheit. Drehe meinen Kopf zum Fenster hin. Bin mir sicher ein Kind weinen gehört zu haben. Da schon wieder. Zu laut, zu deutlich um überhört werden zu können. Dann etwas dumpfes, ein klatschen. Fast wie ein Schlag ins Gesicht. Ich kneife die Augen zusammen. als ich Verdammt es geht nicht. Ich stehe auf und spähe durch den Spalt zwischen meinen Vorhängen. Das Licht der Laterne blendet mich. Ich kann nichts erkennen. Ich mache meine Nachttischlampe aus. Will nich, dass jemand sieht, dass ich noch wach bin. Der Wecker zeigt Mitternacht. Ich lausche. Das Weinen wird lauter. Auch das Gebrüll der Männer. Das muss doch verdamt nochmal jemand hören. Ich habe Angst.
Plötzlich wird es still. Totenstill. Ich bekomme Panik.
Doch dann höre ich gegenüber die Tür aufgehen. Jetzt, ganz deutlich: Kinderschreie. Die Schreie vieler Kinder. Und sie Stimme einer Frau. Hektisch. Abgehackt. "Bitte kommen Sie. Schnell. Ich glaube, die bringen sich da oben um."
Scheiße.
...
Eine Schrecksekunde. Vielleicht zwei. Dann springe ich aus dem Bett. Scheiß auf BH oder Schuhe, 'ne Hose muss reichen. Ich schnappe mir die Wohnungsschlüssel und renne auf die Straße.
Da auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen sie. Eine Frau mit; ich muss schlucken; sechs kleinen Kindern an der Hand. Die Jüngste höchstens zwei Jahre alt. Sie weinen, brüllen, schreien aufgeregt durcheinander, während die Frau immer noch aufgelöst in ihr Handy spricht. Ich nähere mich ihnen vorsichtig.
"Entschuldigen sie.. Brauchen sie Hilfe?" Die Kinder verstummen auf die Sekunde und starren mich mit großen Augen an. Hastig wendet sich die junge Frau mir zu. Ihre strähnigen Haare sind blond gefärbt. Der Ansatz wächst bereits deutlich dunkler nach. Sie hat tiefe Ringe unter den Augen. Und sie ist dünn. Erschreckend dünn. "Ja. Bitte. Da oben. Mein Mann. Eifersüchtig. Hat mich geschlagen. Sind geflüchtet. Raus hier. Nur raus hier." Unzusammenhängende Worte sprudeln aus ihrem Mund während sie mich entsetzt ansieht. "Ein Freund von uns. Seine Kinder. Eifersüchtig. Messer. Die bringen sich um." Und immer wieder: "Die bringen sich um". Ich denke nicht nach. Schaue in die Gesichter der Kinder. Keins scheint verletzt. Gut. "Kommen sie. Wir gehen rüber in unseren Hausflur. Da sind sie sicherer falls der Typ runter kommt." Mir wird kalt. Falls der Typ runter kommt.
"Okay okay. Gehen wir." Hektisch packt sie zwei der Kinder am Ärmel. Den Rest treibt sie vor sich her. Wir hasten über die Straße.
Ich will das Licht ausmachen. Will, dass sie die Tür schließt. Aber sie möchte ihren Hauseingang beobachten. Ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Lass ihn nur nicht runterkommen. Er darf bloß nicht sehen, wo ich wohne und seine Frau und Kinder verstecke. Bloß nicht. Ich zittere.
Alles ist still. Die Kinder um mich herum schauen mich an. Große Kulleraugen, die noch tränenfeucht glänzen. Ich hocke mich zu ihnen. "Hallo. Also ich bin Lisa und wie heißt ihr?" Ein aufgeregtes Geplapper entsteht. Jeder will zuerst. "Ich bin Jerome." "Ronny." "Ich heiße Jaquline." "Pascal." "Justin." "Und das da ist Jenny." Der Kleinsten fällt der Schnuller aus dem Mund. Ich muss lächeln.
"Schhhhhh!!" fährt die Mutter sie an. Augenblicklich verstummen die Kinder vor meinen Augen. Hey nicht so aggressiv. Sei froh, dass ich deine Blagen ablenke und sie nicht mehr heulen! Aber ich will mich ja nicht in die Erziehung anderer Leute einmischen. Wann kommt bloß dieses verdammte Polizeiauto?
"Ich komme nach den Ferien in die Schule." "Oh wirklich? Und freust" "Wir sind sogar schon in der zweiten Klasse!" "Wow. Das ist ja" "Guck mal ich hab Hello Kitty Socken." "Oh die sind aber" "Zu meinem Geburtstag bekomme ich ein Fahrrad." "Pscht! Jetzt seid verdammt nochmal leise!!" Erschrocken heben wir sieben die Köpfe. Ich habe mir noch nie von jemandem so den Mund verbieten lassen. Immerhin ist das hier mein Hausflur. Sie sollte lieber froh sein, dass.. Ein Polizeiauto biegt fast lautlos um die Kurve. Nur zu erkennen an seinem schleichenden, suchenden Tempo. Aufgeregt springt sie aus meinem Hausflur heraus auf die Straße und winkt mit den Armen. Ich bleibe bei den Kindern stehen. Sie redet auf die Polizisten ein. Gestikuliert wild. Deutet immer wieder nach oben. Dreht sich kein einziges Mal zu uns um. Die Polizisten betreten das Gebäude. Sie bleibt noch einen Moment lang unschlüssig stehen, kommt dann zu uns zurück. "Ist am besten wenn ich jetzt reingehe und meine Sachen hole, oder? Jetzt wo die Beamten da sind kann ja nichts passieren." "Hm ja. Ja ist wahrscheinlich besser so." Und die Sachen von den Kindern? "Haben sie denn einen Platz wo sie heute Nacht hinkönnen?" "Nein. Hab ich natürlich nicht!" "Hm." Ich würde ihr unser Wohnzimmer anbieten. Würde ich wirklich tun. Nicht für sie. Für die Kinder. Aber kann ich natürlich nicht. Mein Papa würde mich lynchen.
"Also wir gehen jetzt da rüber. Zack Zack." Sie packt die Kinder an den Händen und erneut hasten sie über die Straße. Nur diesesmal ohne mich.
...
In Sekundenschnelle sind sie im Schatten des hohen Gebäudes verschwunden. Ich bleibe noch ein paar Minuten im Hauseingang stehen. Barfuß. Und zitternd. Als wäre ich eins ihrer Kinder, dass sie vergessen hat.
Schließlich schließe ich die Tür. Drehe den Schlüssel zweimal im Schloss herum und tapse zurück in mein Zimmer. Ich lausche durch die Dunkelheit nach draußen. Doch jetzt, ist nichts mehr zu hören. Irgendwann fährt ein Auto davon. Ob sie mitgefahren oder geblieben sind, weiß ich nicht.
Deswegen mag ich Bücher. Da erfährt man, wie die Geschichte endet.